Mit Sr. Walburga unterwegs in Attat
Foto: © Julia
Siegel
Kleines Chaos, sehr viel Krankheit und unglaublich herzliche Menschen...
Ein sonniger Donnerstagmorgen. Die Blätter der
Birke vor dem Haus glitzern im Rhythmus des Windes. Kleine helle
Blitze reflektieren die warmen Strahlen aufs Fenster. Ich arbeite am
PC und höre dabei Radio. „What a wonderful World“ singt Louis
Armstrong mit seinem rauen, herb-männlichen und doch so
einfühlsam-sanften Timbre.
„Es ist viertel nach Elf durch und mit
genau so ruhiger Musik machen wir weiter“ lässt die Moderatorin mit
ihrem entspannten Lächeln in der Stimme das gerade verklungene Lied
nachwirken. „Hier kommt Ronan Keating mit einem richtig schönen Hit:
‚If to morrow never comes’...“ Für einen Moment höre ich auf zu
tippen, lehne mich zurück und lasse die Gedanken spielen. Was für
eine wunderbare Welt ... und was für ein schöner Tag! Dann
schmettert Glen Campbell sein „Rhinestone cowboy“ auf die Antenne
und ich konzentriere mich wieder auf den Text am Bildschirm.
Plötzlich wird es still. „Die Power der Nächstenliebe“ höre ich die Moderatorin sagen, und ihren Worten folgen ganz andere Töne. Im Takt der ernsten Instrumentalmusik ein dumpfer Herzschlag... Sie spricht von Afrika, dem großen unbekannten Kontinent und einem der ärmsten Länder der Welt: Äthiopien. Von Kindern, die an Durchfall oder Unterernährung sterben, von harmlosen Krankheiten, die tödlich enden, weil es auf dem Land oft keine Medizin gibt, von Elend und Armut, die am stärksten Frauen und Kinder trifft, und von einem Krankenhaus, das für viele die letzte Hoffnung und auch die letzte Rettung ist. Schwärmt von den missionsärztlichen Schwestern, den tollen Mädels, die alles geben und sich dabei selbst nicht schonen. Ist hin und her gerissen zwischen „Oh, mein Gott, wie furchtbar“ und andererseits baff, von dem was die da leisten und schon geleistet haben, was das Krankenhaus alles bewegt vom Brunnenbau bis zur Aufklärung über Hygiene, AIDS-Vorsorge, Geburtenregelung und Ernährung. „Wenn es das nicht mehr geben würde, das wäre für die Menschen eine absolute, riesengroße Katastrophe...“
Für einen Moment bin ich schockiert, verstimmt und irgendwie angespannt. Die eben noch so wunderbare Welt ist gestört. Was hab ich mit Afrika zu tun? Sind die täglichen Beinah-Weltuntergänge, Krisen, Sorgen und Probleme nicht schon schlimm genug? Warum helfen die sich nicht selbst? Mir wird doch auch nichts geschenkt. Ebbe im Kühlschrank... Ebbe im Geldbeutel... Minus auf dem Konto... Was geht mich das an? Doch irgend etwas hindert mich daran, den Lautsprecher abzuschalten. Der Moderatorin geht das Erlebte wirklich nahe. Das fühlt man, auch wenn sie sich professionell unter Kontrolle hat und nicht in Tränen ausbricht. Der Sender hat sie dort hin geschickt, damit sie den Hörern berichten kann wie es ist - das Leben in einer anderen Zeitrechnung. Wo man nicht mal schnell per SMS eine Pizza bestellen, mit dem Handy ein Taxi rufen oder in der Not die 110 wählen kann. Kein Arzt und keine Apotheke im Ort ist, kein Supermarkt um die Ecke. Kein Telefon, kein Internet, kein Radio. Ich greife nach der Flasche Wasser auf dem Tisch. Unvorstellbar jetzt mit einem Kanister drei Kilometer zum nächsten Brunnen laufen zu müssen, um eine Tasse Kaffee kochen zu können. Ich spüre einen Kloß im Hals während sie weiter redet...
• Mitschnitt aus der Radiosendung
»Soviel Herzenswärme, Elan und Enthusiasmus«
Foto: © Julia Siegel
„Es hat nichts mit Reportagen im Fernsehen zu
tun, die man so kennt. Wenn man alles riecht, erlebt und fühlt, das
ist was ganz anderes. Das ist die ungeschminkte Wahrheit. Ich weiß
nicht, ob Sie schon mal ein unterernährtes Kind gesehen haben. Wohl
eher nicht. Ich vorher auch nicht. Ich hab ein Baby gesehen, drei
Wochen alt, das war nicht nur dünn, da war wirklich nur Haut und
Knochen dran. Ganz kleine dünne Fingerchen, und ein Gesicht, da
kamen die Knochen richtig raus. Wenn man selber Mutter ist von einem
knapp Zehnjährigen, da kommen einem fast die Tränen. Es ist ganz
schlimm sowas in Natura zu sehen. Ich hatte auch das Gefühl, dass
dieses Baby zu schwach zum Schreien ist. Und ob es überlebt hat, ich
weiß es nicht...“ Die Moderatorin ringt nach Worten, während sie die
Bilder beschreibt, die ihr nicht aus dem Kopf gehen. Erleichtert
schiebt sie den Regler runter und lässt wieder Musik abfahren.
"Ein Stück vom Himmel" ächzt Herbert Grönemeyer,
kaum zu verstehen und doch so mitreißend echt. "Ein Platz von Gott,
ein Stuhl im Orbit. Wir sitzen alle in einem Boot. Hier ist dein
Haus - hier ist, was zählt. Du bist überdacht von einer grandiosen
Welt...".
Ein Gefühl der Hilflosigkeit überkommt mich. Ich krame nach dem
Taschentuch in meiner Jeans. Beim Aufrufen meines Kontos beschränkt
sich die Vision vom Helfen auf eine gerade noch machbare
Kleinigkeit. Ich gehe in die Küche, drehe wie selbstverständlich den
Hahn auf, fülle den Wasserkocher. Mir ist jetzt nach einer Tasse
Tee. Dann lasse ich Google nach Äthiopien und dem Attat Hospital
suchen... denn das Einzige was ich bisher von diesem Land gewusst
habe, ist der Name des Kaisers Haile Selassie und ich erinnere mich
an die großen Spendengalas im ZDF, wo ich immer aufs Klo gehe, wenn
Bilder kommen, bei denen mir zum Heulen ist, weil mir erst dann so
richtig bewusst wird, dass es mir eigentlich ganz gut geht. Viel zu
gut im Vergleich zu dem, was ich nicht sehen will.
„Dieses Krankenhaus ist eine Mischung aus - es ist manchmal schwer zu beschreiben, wenn ich ehrlich bin - kleinem Chaos, sehr viel Krankheit und aus unglaublich herzlichen und freundlichen Menschen, ob nun einheimische Kranke oder Schwestern oder Ärzte, und das ist wirklich das was mich sehr fasziniert hat.“ In jeder Sendung erzählt die Moderatorin mit einfachen Worten von der Arbeit in der Missionsstation, was sie in Äthiopien erlebt hat und wofür die Hörer spenden sollen. Dass jede noch so kleine Summe nützlich ist und wirklich da ankommt wo sie gebraucht wird: im Attat Hospital. Den einen mag das nerven, den anderen macht es betroffen, weil er erst jetzt richtig hinhört und anfängt nachzudenken ... über das Leben.
„Wir wissen wie Afrikaner sterben, aber wie sie leben, wissen wir nicht“, sagt Henning Mankell. Zufällig läuft sein Film im Fernsehen, als ich gerade einschalte. Wäre ich vorher nicht mit Äthiopien beschäftigt gewesen, hätte ich einfach weiter gezappt. So erfahre ich, dass er armen Familien schlichte Häuser baut, damit sie ein Dach über dem Kopf haben. Auf einmal ist der berühmte Schriftsteller, von dem ich bisher nur seine Romanfigur Kommissar Wallander und den Film „Die Rückkehr des Tanzlehrers“ kannte, ein ganz anderer Mensch für mich, einer, der die Früchte seines Erfolgs und seine Fähigkeiten mit den Armen teilt. Der mir Afrika in einer Weise näherbringt, die beschämend und verwirrend zugleich ist.
„Somethin' Stupid“ trällern Robbie Williams und Nicole Kidman. Die Moderatorin erinnert an das Original von Nancy und Frank Sinatra, spielt es kurz an, damit es nicht in Vergessenheit gerät. Draußen fängt es an zu regnen. Düstere Wolken hängen über der Stadt. Die Moderatorin sagt ihren Standardspruch auf. Sie muss nicht mehr von einer Dienstreise erzählen, die ihr auch drei Monate danach noch aufs Gemüt geht („Es ist unglaublich wie einen das berühren kann“). Was bleibt ist die Sprachlosigkeit und der Eintrag im Gedächtnis, der sich nicht einfach löschen lässt. Hätte ich nicht Radio gehört, wäre Äthiopien für mich kein Thema gewesen.
Anita Pospieschil (2009)